Wo die Schlepperei anfängt, hört die Kletterei auf (Hias Rebitsch)
Es stand fest, daß ich meinen Freund wegen eines Praktikums in Argentinien für fünf Monate verlassen würde.
Weil wir uns wenigstens über Weihnachten und Silvester sehen wollten, hatte Thomas vor, mich zu besuchen: "Wenn
ich nach Mendoza komme, könnten wir doch eigentlich den Aconcagua besteigen".
Thomas dachte sicher an die alte offene Rechnung, nach der er sich vor einigen Jahren bei dem Versuch einer
Winterbesteigung des mit 6960 Metern höchsten Berges von Südamerika, eine Lungenentzündung einfing und dafür einen
Sack eintauschen mußte, der jetzt noch dort hing. Aber die Idee war gut. Seit mehreren Jahren fuhren wir jeden
Sommer in eines der hohen Gebirge zum Bergsteigen. 1998 wurden Thomas, der mit dem Studium fertig war und keine
Semesterferien mehr hatte, nur zwei Wochen Urlaub im Sommer bewilligt, die wegen schlechten Wetters beim
Sportklettern in Italien endeten. Zum Jahreswechsel jedoch waren unglaubliche vier zusammenhängende Wochen
drin. Zeit genug, um im südamerikanischen Sommer das alpinistische Defizit des Jahres 1998 ein wenig aufzubessern.
Kurz vor Weihnachten reist Thomas über Santiago an. Die minus 10 °C von Deutschland sind befremdlichen plus 38 °C
gewichen. Aus dem Radio tönen Weihnachtslieder. Der Weihnachtsmann trägt hier trotz hochsommerlicher Temperaturen
keine Badehose und wirkt in seinem Aufzug, der uns Mitteleuropäern geläufig ist, deplaziert. Den 24. Dezember
versuchen wir so besinnlich wie daheim zu gestalten, aber draußen auf der Straße geht es zu wie bei uns zu Silvester.
In Argentinien gedenkt man der Stillen und Heiligen Nacht eben mit ohrenbetäubender Musik und Feuerwerk.
Weihnachten ist hier egal, am nächsten Morgen geht es los. Nach einigen Stunden Busfahrt finden wir uns in der
staubigen und sonnenüberfluteten Einöde von Punta de Vacas wieder. Hier also führt der Weg drei Tage durch das
Tal des Rio Vacas zum Basislager. Plaza de Argentina in etwa 4100 m. Noch motiviert helfen wir uns gegenseitig
in die 35 kg schweren Rucksäcke hinein, die unsere Ausrüstung und das ganze im Vorfeld organisierte Essen beherbergen.
Aber schon am ersten Tag nach kurzer Zeit verstärkt sich der Eindruck, daß wir irgendwie eckige Koffer auf dem
Rücken haben, erheblich. Es nützt auch nichts, daß wir uns an den folgenden Morgen mit augeklügelten Varianten
eines optimal gepackten Rucksacks gegenseitig übertreffen. Rechte Freude an der Wanderung in der schönen und
einsamen Landschaft kommt nicht auf. Ein einziges Mal überholen uns Mulis, die das Gepäck anderer Bergsteiger
hinauftragen und führen uns mit großartiger Geländegängigkeit vor Augen, welch mangelhaftes Talent zum Lastentragen
wir dagegen besitzen. Zu Anfang des dritten Tages erblicken wir erstmalig den Berg. Von seiner Ostseite, auf der die
von uns gewählte Aufstiegsroute über den Polengletscher verläuft, ähnelt er einer schneebedeckten Pyramide. Diese
Ansicht wirkt viel schmaler als die bekanntere von Süden.

Plaza de Argentina ist doch noch erreicht worden. Allerdings müssen wir uns zwei Tage lang erholen und wunde
Hüft- und Schulterknochen pflegen. Die anderen Lagerinsassen werfen indessen neugierige Blicke herüber, denn
außer den Polen und Tschechen, die hart im Nehmen und dafür berüchtigt sind, tragen in den wenigsten Fällen
die Bergsteiger ihre gesamte Ausrüstung selbst herauf. Wer Geld hat, mietet Mulis. Die folgenden Tage dienen
der Akklimatisation. Wir teilen unser Gepäck in zwei Hälften, steigen ein Lager (4950m) höher und deponieren
einen Teil dort, bevor wir wieder absteigen, um nach einem Tag Pause den Rest hochzubringen. Zwei stets zu neuen
Späßen aufgelegte Brasilianer begegnen uns immer wieder. Unablässig hört man die beiden reden. So haben wir ein
sehr unterhaltsames Abendprogramm, wenn uns der kalte Wind und das schlechte Wetter beizeiten in die Schlafsäcke
treiben. Nur einmal versiegt zumindest der Redefluß. Ein Gletscherbächlein findet seinen Weg durch das Zelt
unserer Nachbarn, und diese müssen sich auf das Ausheben eines Abflußkanals konzentrieren. Ein anderweitig
bemerkenswerter Bergfreund aus Amerika ist Harry, der beizeiten allseits durch sein Talent zum Schnorren auffällt.
Auch wir werden schnell mit ihm bekannt und dabei unsere Niveacreme los. Außerdem führt Harry eine unglaubliche
Knoblauchfahne mit sich herum, die in jedem Betroffenen die Frage aufkeimen läßt, wie man man derartig notwendige
Mengen an frischem Knoblauch in den begrenzten Tiefen eines Bergsteigerrucksacks überhaupt unterbringen kann.
Nach einer Pause im Lager 1 erwartet uns wieder die Arbeit des Lastentragens in das Lager 2 auf 5900 m Höhe.
Wir bringen eine Hälfte des Gepäcks hoch und sehen die Schwierigkeiten, von denen uns bereits andere Bergsteiger
nach mißglückten Besteigungsversuchen berichteten. Wegen des El Nino fielen im letzten Sommer so geringe
Niederschläge, daß der Polengletscher derzeit aus Blankeis besteht. Bei einer Begehung der Direktvariante,
die meist 30° bis 45° und stellenweise bis zu 50° Eiskletterei auf eine Länge von 1000 Höhenmetern am
Gipfeltag vorsieht, würde man mit dem Gehen in Sicherung wahrscheinlich nie oben ankommen. Schon gar nicht
mit unserem 20- m Seil, welches wir nur für den Notfall dabei haben, weil wir unter günstigeren Bedingungen
eigentlich frei gehen wollten. So beschließen wir, mit unserem ganzen Gepäck zum Lager Berlin (5800 m) auf
der Normalroute zu traversieren und von dort den Gipfel zu besteigen. Aber vorerst geht es zurück in das Lager 1,
wo wir uns das letzte Mal richtig ausruhen müssen. Nachdem wir die andere Hälfte unserer Ausrüstung zum Lager 2
gebracht haben, packen wir dort unser gesamtes Gepäck zusammen und suchen den Weg zum Camp Berlin. Durch das
schlechte Wetter ist kaum etwas zu sehen. Es ist spät, wir sind müde und haben schon fast aufgegeben als wir
das Lager doch noch finden. Der Abend vergeht mit Zelt aufbauen, kochen und Vorbereitungen für den Gipfeltag.
Hier oben legen wir keinen Ruhetag mehr ein. Es ist zu kalt. Unsere Schlafsäcke sind überfordert und müßten
schon längst in den Vorruhestand geschickt worden sein. Aber so erhält Thomas´ Aconcaguaveteran eben noch eine
zweite Chance. Der Gipfeltag läßt sich mit klarem und kalten Wetter an. Wir kommen nicht gerade zeitig früh los
und haben trotzdem den ganzen Tag damit zu kämpfen, unsere Finger und Füße bei Gefühl zu halten, weil der Wind
so stark ist. Es hinterläßt bei uns ein sehr bedrückendes Gefühl, den vor ein paar Tagen etwa 100 m unterhalb
des Gipfels tödlich verunglückten Koreaner, um den sich bereits ein Such- und Bergungsrupp der Argentinier
kümmert und der beiweiten nicht der einzige Tote dieser Saison bleiben sollte, zu sehen. Gegen Mittag treffen
wir unseren Freund Harry und steigen gemeinsam zum Gipfel auf. Weil wir noch genügend Zeit haben , beschließen
wir, uns im Abstieg zu beeilen, das Zelt im Camp Berlin abzubauen und mit unserem gesamten Gepäck weiter auf
der Normalroute in das Basislager Plaza de Mulas auf 4200 m hinabzusteigen. Der Weg dahin gestaltet sich
alptraumhaft. Wir kommen an drei Zwischenlagern vorbei, die wie Kleinstädte anmuten, deren Einwohner größtenteils
kommerziellen Expeditionen angehören. Gegen 21 Uhr erreichen wir die Großmetropole Plaza de Mulas, die schon
weitem errkennbar war. Ungeachtet unserer Erschöpfung machen wir uns am nächsten Tage lieber zeitig aus dem
Staub und erreichen nach zwei Tagen mühevollen Rucksacktragens den Ort Puente del Inka, von dem der Bus nach
Mendoza fährt. Wir haben noch etwas Zeit und kehren in ein Restaurant ein, um unseren Mägen endlich wieder
einmal etwas richtig Festes zukommen zu lassen. Zu unserer Überraschung sitzt Harry bereits bierlustig an
einem Tisch. Der findige Kellner, der das Problem mit ihm schon gerochen hat, serviert eine extraaromatische
Knoblauchzehe von so gewaltigen Ausmaßen, die sogar Harry überfordert. Mit einer Flasche Rotwein lassen wir es
uns gut gehen. Egal, ob uns die Touristen so anstarren, weil wir ziemlich auf den Hund gekommen aussehen und
sicher keinen Wohlgeruch verbreiten. Mach´s gut, Harry. Das nächste Mal ohne diese elende Schlepperei und etwas
steiler. Bis bald zum Klettern in der Sächsischen Schweiz. Und so völlig ´crazy´, wie Du denkst, sind die Leute
da auch nicht. --- ende ---
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