Stories aus der Sandmausgeschichte

Unterwegs in den Königskordilleren von Thomas

Zwei Stunden stapfen wir schon durch den Schnee. Das Gelände ist noch recht einfach zu begehen und das Mondlicht weist uns den Weg. Viel lieber wären mir jedoch ein paar wärmende Sonnenstrahlen. Es ist saukalt. Meine Fingerspitzen spüre ich schon wieder nicht mehr. Zum wievielten Male halte ich nun schon an, um sie mir warm zu reiben? Jacke hoch, Pullover hoch und Finger an den Bauch gesteckt. Ein Schock für den Bauch, eine Wohltat für die Hände. Meine Uhr kann die Temperatur schon gar nicht mehr anzeigen, sie will überhaupt nichts mehr anzeigen. Auch ihr ist es zu kalt.
  Vor zwei Tagen befanden wir uns noch im Paradies. Zumindest kam uns das kleine Dorf Sorata am Fuße der beiden Eisriesen Illampu und Ancohuma so vor. Von der kargen Landschaft des Altiplano kommend, begrüßte es uns in einem fruchtbaren Tal gelegen mit zahlreichen exotischen Pflanzen wie übermannshohe Weihnachtssterne, Bananenbäumen und vielem mehr. Die Jacke und der Pullover konnten endlich mal im Rucksack verschwinden, wir genossen das milde und sonnige Klima. Für Birgit und Olaf, unserem frisch vermählten Pärchen, hatte der Sinn einer Hochzeitsreise endlich wieder realere Formen angenommen. Vorher durcheilten sie Peru, um sich mit uns pünktlich in La Paz zu treffen. Christiana und ich frönten derweil dem Extrembusfahren in Argentinien, wie Olaf auf Grund unserer tagelangen Busfahrten mal treffend feststellte.
  In Sorata untergekommen waren wir im Landhaus Copacabana bei Don Eduardo. Sein richtiger Name ist Eduard Kramer. Er lebt schon etliche Jahre in Bolivien, nach Deutschland kann er wegen seiner früheren linksextremistischen Aktivitäten nicht, so munkelt man hier. Mit drei seiner Maulesel und zwei Eseltreibern haben wir vor vier Tagen das Paradies Richtung Ancohuma-Basislager verlassen.

vor Ancohuma Westwand auf ca. 6000m Jetzt stehe ich hier, 3000m höher und zittere inzwischen am ganzen Leib. Hätte ich nur die Daunenjacke nicht im Zelt liegengelassen. Christiana war da schlauer. Schnell die Handschuhe wieder angezogen und zum warm werden einen kleinen Sprint hingelegt. Nach ein paar Schritten bin ich vollkommen außer Atem. Das ist also auch nicht die richtige Taktik. So laufe ich langsam aber stetig ein paar hundert Meter, bevor ich erneut wegen meiner tauben Fingerspitzen zum anhalten gezwungen werde.
   Zum wiederholten male frage ich mich, warum ich mir das antue. Auch ich könnte doch wie Umberto noch im warmen Schlafsack liegen. Umberto ist einer der beiden Mauleseltreiber. Zwischen ihm und uns hat sich ein freundschaftliches Verhältnis entwickelt. Wir haben viel gelacht, als er uns ein paar Brocken der Indianersprache Aymara und wir ihm im Gegenzug deutsch und englisch beigebracht haben und uns dabei fast die Zungen verknoteten. Als wir gestern zum Hochlager starteten, wollte er unbedingt im Basislager auf uns warten und auf unsere zurückgelassenen Gegenstände aufpassen. Man hatte uns auch schon in La Paz vor Dieben in diesen Regionen gewarnt. Ob es nur ein Gerücht ist, welches die Einheimischen auch gern als Quelle zum Geldverdienen pflegen, wissen wir nicht. Jedenfalls legten wir es nicht darauf an und willigten in Umbertos Vorschlag ein.
  Christiana drängelt mich zum Weitergehen. Auch sie zittert schon am ganzen Körper. Wir folgen den Spuren, die frühere Expeditionen hier hinterlasen haben. Auf einmal verzweigen sie sich. Eine führt im weiten Bogen zum Nordwestgrat, dem Normalweg. Die andere führt in Serpentinen durch die steilere Westwand. Ich folge ganz undemokratisch der zweiten Spur, ganz so schlimm soll es ja durch die Westwand nicht sein. Die Spanier, die wir gestern noch im Hochlager antrafen, hatten diesen Weg auch gewählt.
  Birgit und Olaf signalisieren uns ihre Umkehr. Zur Akklimatisation war für sie vorher nicht viel Zeit, was jetzt leider zum Verhängnis wird. Die Gipfelbesteigung sollte zwar ein Höhepunkt ihrer Reise werden, über die 6000 erreichten Höhenmeter freuen sie sich trotzdem.
Titicacasee vor Ancohuma (mitte) Allein machen sich Christiana und ich an die letzten 400m zum Gipfel. Es wird schon langsam hell, leider versteckt sich die Sonne genau hinter unserem Berg. Nur schnell vorwärts, um sie bald auf dem Gipfelgrat genießen zu können. Die Westwand steilt sich zusehends auf. Sie bringt es bis auf 50 Grad Neigung und die Blankeisstellen lassen in uns nicht gerade die sichersten Gefühle aufkommen. Ich schnaufe und schwitze, nur schnell den Grat erreichen, denn die Finger wollen noch nicht am Aufwärmprozess teilhaben. Wie groß ist meine Enttäuschung, als wir endlich auf dem Südwestgrat ankommen und sich die Sonne immer noch hinter dem Berg versteckt. Die letzten Meter zum Gipfel ziehen sich noch quälend dahin. Hinter jedem Steilaufschwung, hinter jeder Kuppe vermuten wir den Gipfel. Nach reichlichen 5h stehen wir dann oben, 6427m über dem Meeresspiegel. Endlich erreicht uns die lang ersehnte Sonne, zum Wohlbefinden trägt sie aber kaum bei. Nur der geniale Ausblick entschädigt uns für die vergangenen Strapazen: der Illampu im Nordwesten, der Titicacasee im Süden und das Altiplano im Osten. In diesem Moment weis ich, warum ich das alles auf mich nehme.
   Der Abstieg ist schnell getan: Mittag im Hochlager, Abends im Basislager zusammen mit Birgit, Olaf und Umberto. Am nächsten Tag strapaziöse 2000m Abstieg nach Sorata.
   Die Rückfahrt nach La Paz sollten wir bei Schneefall erleben. Zu Hause in Deutschland lesen wir von tausend erfrorenen Lamas in Bolivien. Mir wird langsam klar, wem ich meine angeforenen Finger zu verdanken habe: El Niño hat mal wieder einiges beim Klima durcheinander gebracht.
 
Noch ein paar Tipps zum Schluß:
Es gibt sehr unterschiedliche und teils widersprüchliche Angaben zum Besteigen des Ancohuma und des Illampu. Wir hatten jedenfalls unsere liebe Not mit dem verfügbaren Infomaterial. Die beste Variante ist zweifellos die Besteigung von Sorata aus, auch der Normalweg auf den Illampu ist von dort zu Fuß erreichbar.
   Ursprünglich hatten wir vor, von Sorata aus per Jeep auf alten Minenstraßen zum Dörfchen Ancoma zu fahren und von da die beiden Berge zu besteigen. Man kann bei dieser Variante an Lauferei sparen, jedoch nicht beim Geld ausgeben (die Jeepfahrt ist unheimlich teuer!).
   Leckere Kuchen gibt es in Sorata im Cafe Illampu. Es wird betrieben von Stefan, einem ausgewanderten Schweizer.