Hostinec (tschechisch) : Wirtshaus, Gasthof
Es war im August des Jahres 2000,als sich elf sächsische Bergsteiger zur inzwischen alljährlichen Fahrradtour
durch unsere böhmische Nachbarregion verabredeten.
Diesmal sollte es am Freitagabend mit einer Zugfahrt nach Ebersbach an der tschechischen Grenze losgehen. "Wir
hätten gern eine preiswerte Gruppenfahrt in der zweiten Klasse für neun Personen", sprach ich zu der freundlich
dreinblickenden Dame am Fahrkartenschalter, "jeder von uns hat ein Fahrrad dabei. Zwei von uns sind unter 25
Jahre alt, vier haben ein Semesterticket für Studenten, einer von denen und drei weitere besitzen die Bahncard.
Bei einer ist sogar ein Passbild drauf." Thomas, eifriger Zugfahrer und erfahren im Ermäßigungsdschungel der
Deutschen Bahn AG, fügte hinzu: "Unter Berücksichtigung aller Kombinationen müsste die günstigste Variante einen
ordentlichen Rabatt bringen." "Mag sein" murmelte unbeeindruckt die Angestellte, "wann soll’s denn losgehen ?"
"In einer guten halben Stunde" antworteten wir und ließen die Frau mit ihrem Computer allein.
20 Minuten später tauchte ihr Kopf wieder hinter dem Bildschirm auf. "Das macht dann 103 Mark und 47 Pfennig,
preiswerter geht’s wirklich nicht, ich hab alles durchgerechnet." Wir dankten artig für ihre Mühe und wollten
uns eben zum Bahnsteig begeben, als lautes Fahrradklingeln und ein erboster Ruf "Das ist hier doch kein Radweg!"
in der Bahnhofshalle ertönten. Robert und Kirsten, die Wackelkandidaten während der Vorbereitung, hatten
eigentlich schon abgesagt. "Wir kommen doch mit" japsten sie mit rotem Kopf, "habt ihr schon Fahrkarten?"
"Leider ja", meinte Christiana, "was aber sicher kein Problem ist. Wir tauschen die Gruppenfahrt einfach noch
mal um. Bekommt ihr irgendwelche Ermäßigungen?
Die Schalterdame blickte irritiert auf. "Jetzt sind es noch zwei Leute mehr?" "Jawoll, zwei Studenten, die beide
eine Ausbildung als ehrenamtliche Zugbegleiter haben." Ulli bekam für diese Bemerkung einen Seitenstoß von
seiner Freundin Manuela. "Bitte ändern Sie Fahrkarten noch einmal um. Und diesmal ist in zehn Minuten Abfahrt."
Kurz nach 19 Uhr zogen wir das letzte Fahrrad in den schon fahrenden Zug. Um die mit einem Nervenzusammenbruch
hinter ihrem Computer liegende Angestellte konnten wir uns leider nicht mehr kümmern.
Im Abteil konnte ich gleich mit einer Überraschung für die anderen aufwarten. "Erstmalig ist es mir gelungen,
einen Sponsor für unsere Idee zu finden. Das stadtbekannte Fahrradhaus Eichler unterstützt uns unter Bedingung,
dass wir den letztjährigen Hostinec-pro-Kilometer-Wert von 0,04 verbessern." Alle packte sofort der sportliche
Ehrgeiz. "Das schaffen wir locker" gab sich Stefan, bisher bei allen bisherigen Touren dabei, kämpferisch.
"Die Prämie ist uns so gut wie sicher. Zur Not latschen wir vorne nur in das kleine Kettenblatt. Das sorgt für
entsprechend wenig Kilometer und treibt den Kneipen-Schnitt automatisch nach oben." Zustimmender Beifall. Guten
Gewissens verteilte ich an jeden ein Fahrradflickzeug sowie die offiziellen 'Hostinec-Express-2000' Aufkleber,
und eigentlich waren alle der Meinung, dass diese Unterstützung der regionalen Bedeutung unserer Fahrt
angemessen war.
Den Rest der Zugfahrt verbrachten wir im Fahrradabteil, welches sich im Triebwagen befand und durch eine große
Glasscheibe eine wunderbare Aussicht auf die Schaltpulte rund um den Lokführer
und die vor uns liegende Strecke bot. Während unsere Neuner-Kletterer darüber
diskutierten, ob der Gebrauch von Zweifingerbremshebeln am Fahrrad die
Leistungsgrenze beim Lochklettern nach oben verschieben kann, mussten die
Mädels den armen Lokführer beruhigen. Der hatte sich nämlich furchtbar
erschrocken, als Baustatiker Vinc wie wild auf der Glasscheibe herumtrommelte,
um Freundin Birgit seine von ihm berechnete Arnsdorfer Brücke über die
Eisenbahn zu zeigen.
Es wurde schon langsam dunkel, als wir durch das Tor im Gartenzaun radelten, welches in Ebersdorf den
Fußgängergrenzübergang darstellt. Inzwischen hatten wir alle Hunger und Durst
sowieso. Und das Glück war auf unserer Seite: Nach wenigen Kilometern tauchte
schon das erste Hostinec am Straßenrand auf. Der große Holztisch unter freiem
Himmel war wie für uns bestellt. Bald stand das erste Bier vor uns, und wir
stießen auf ein lustiges Wochenende an.
In einer unserer Landkarten war ein Zeltplatz in Rumburk eingezeichnet. In der Richtung, in der wir suchten,
fanden wir allerdings nur die örtliche Diskothek. Steffen, unser Mann mit den
besten Tschechischkenntnissen, stapfte unverdrossen mit seinen kurzen Radlerhosen
hinein und kam nach einer kurzen Weile grinsend wieder heraus. 'Hier drin tanzt
der Bär, hier bleiben wir!' entschied er. 'Und der Zeltplatz?' fragten wir.
'Ach so, der soll sich direkt hinter dem Haus befinden, die sanitären
Einrichtungen sind die der Disko.' Ungläubig schoben wir die Räder um die Ecke.
Tatsächlich, Holzhütten nebst Campingwiese! Nach dem Zeltaufstellen kramten wir
in den Fahrradtaschen nach unserer Abendgarderobe. Was dabei herauskam, war
dürftig, kaum jemand hatte eine lange Hose dabei. Unser Einzug in den
Tanzschuppen dürfte daher noch tagelang für Gesprächsstoff unter der
tschechischen Dorfjugend gesorgt haben. In unseren bunten Radtrikots leuchteten
wir im Neonlicht wie die Paradiesvögel. Der Höhepunkt des Abends war freilich
der Auftritt einer Stripperin, die sich nur kurz von unseren begeistert
geschwenkten Fahrradrücklichtern ablenken ließ.
Am nächsten Morgen krochen wirbeizeiten aus unseren Schlafsäcken, wir hatten schließlich viel vor. Mangels
einer Rezeption fielen keine Übernachtungsgebühren an, wahrscheinlich ist der
Platz von der Diskothek gesponsort. Jedenfalls lagen überall völlig verkaterte
Tschechen im Gras. Zum Frühstück ließen wir uns auf dem Marktplatz von Rumburk
nieder. Dem örtlichen Bäckerladen nahmen wir sämtliche Schokohörnchen ab und
tranken seinen Selbstbedienungskaffeeautomaten leer. Vollgefressen quälten wir
uns die erste Steigung aus Rumburk heraus. Glücklicherweise gönnten uns kurze
Regenschauer gleich zwei Pausen.
Auf unserem Weg über Krasna Lipa,Rybniste und Chribska kamen wir allmählich in Tritt. Vor uns lag die erste
Bergwertung, gleich eine der schwersten Kategorie. Was nichts anderes
bedeutete, als dass nach dem vermeintlichen 'Pass' keine erfrischende Abfahrt
zum inzwischen lautstark geforderten Bier auf uns wartete, sondern gleich der
nächste Anstieg. Umso euphorischer wurde dann das erste Hostinec gefeiert, was
in Kytlice am Straßenrand auftauchte. Eine der typischen Holzbuden, in der es
außer Bier eigentlich nichts anderes gab. Aber das war uns ja nur recht.
Weiter ging es auf kleinen, kaum von Autos befahrenen Nebenstraßen durch die herrliche böhmische Landschaft.
Ziemlich verlassen wirkende Orte wie Svor, Cvikov und Brniste säumten unseren
Weg. Inzwischen lachte die Sonne vom blauen Himmel, die ersten Trikots wurden
ausgezogen. Vollkommen begeistert stimmten die Tour-Neulinge in die 'Pivo,
Pivo'-Schlachtrufe der anderen ein. Immer wieder wurde trotz enormer Textlücken
das Hostinec-Lied der Schlappseiler angestimmt. Meistens reichte es nur zu einem
'Hm hm hm hm ... Hostineheec! Text vergessen, scheiß-egahaal!'. Die Stimmung
war total ausgelassen.
Nach nur einem weiteren Trink-Stopp kamen wir hungrig und
durstig in Mimon an, bekannt und berühmt als erstes Etappenziel der
alljährlichen Adrspach-Pfingstradfahrt. Schnell bog sich der schön im Schatten
gelegene Tisch unter der Last der Bierkrüge. Um die Speisenbestellung
vermeintlich zu vereinfachen, sammelte ich die teils recht eigenartigen,
sicherlich Sonnenstichen geschuldeten Wünsche der anderen ein und begab mich
nach innen zur Theke.
Schweinebraten mit Kraut und Knödel, Schweinebraten ohne Kraut, aber doppelt Knödel, Schweinebraten mit
Lendenbraten, Schweineschnitzel natur mit Pommes frites, Schweineschnitzel
nicht natur mit Reis, Schweinesteak mit Pfirsich, Ananas, Champignons und
Broccoli überbacken und dazu eine Portion Nudeln. Solche und ähnliche Gerichte
diktierte ich mühsam dem sichtlich verwunderten Kellner in seinen Notizblock.
Als ich endlich damit fertig war, zählte er zusammen und fragte mich: 'Zehn
Essen, richtig?' Ich schaute auf meinen Zettel und meinte: 'Nein, es müssen elf
Essen sein'. Daraufhin zeigte er mir seinen mit tschechischen Abkürzungen
übersäten Notizblock. Die Menschenschlange hinter mir murmelte bereits
bedrohlich. In meiner Not tippte ich auf eine der Hieroglyphen. 'Dieses doppelt
bitte' stammelte ich und hoffte inständig, auf kein zu ausgefallenes Gericht
gezeigt zu haben. Wie sich später herausstellte, bekam die meisten sowieso ein
mehr oder weniger von der Bestellung abweichendes Essen vorgesetzt. Zum Schluss
waren aber alle zufrieden.
Am Nachmittag fuhren wir noch die 15 km nach Doksy. Der Zeltplatz, auf dem wir landeten, war gerammelt voll.
Hundertschaften tschechischer Jugendlicher lebten ihre Vorstellungen von erfülltem
Wochenendcamping aus. Am besten gefiel uns die Gruppe, die unter ihrer
Zeltplane ein Lagerfeuer anzündeten. Wir gingen erst mal in den naheliegenden
See baden. Später am Abend erfuhren wir, wie schwierig es sein kann, mit elf
Leuten am Samstagabend Platz in einer vernünftigen Kneipe zu finden. Aus einem
Freiluftrestaurant verjagte uns ohrenbetäubend laute tschechische
Country-Musik, in der nächsten erklärte uns der Kellner um neun Uhr seinen
Küchenschluss. Letztendlich landeten wir in der Pizzeria. Dort gab es jedoch
leider nur die Auswahl zwischen Mikrowellenspaghetti und einer Sorte
Tiefkühlpizza.
Der Sonntag versprach heiß zu werden. Schon am Vormittag waren wir über jeden Baum am Straßenrand froh, der
wenigstens kurzzeitig Schatten spendete. Auf fast völlig autofreien Landstraßen
und wegen radelten wir ohne Pause, von einer Reifenpanne mal abgesehen, durch
Vrchovany, Chlum, Pavlovice und Kozli Roh bis nach Holany. Dort verbrachten wir
drei Stunden der größten Mittagshitze damit, unseren Bierkonsum auf ein
beachtliches Maß zu erhöhen. Der angrenzende Badesee trug ja nicht weiter zur
Erfrischung bei. Er war so verschlammt, dass man dreckiger herauskam als
hineinging.
Das vorletzte Teilstück führte uns, immer noch in brütender Hitze, über Blizevedly, Kravare, Hermanice und
Zandov langsam Richtung Heimat. Zum Glück war es nicht mehr so bergig wie am
Samstag. Unsere Mädels klagten zwar zunehmend über Muskelschwäche, ließen sich
aber nicht kleinkriegen. Vor allem Kirsten zollten wir unseren Respekt, die die
ganze Tour mit Dauerdünnpfiff durchzog. In Benesov legten wir noch einen Stopp
zum Eisessen ein, Bier konnte vorerst kaum noch einer sehen. In Decin freilich,
das nahe Ende der Tour vor Augen, langten wir noch mal ordentlich zu. Insgesamt
schafften wir trotz zweier Nichtbiertrinker 43 Liter auf der Tour. Das war
neuer Rekord. Elf Hostinec geteilt durch 170 gefahrene Kilometer ergaben einen
Schnitt von 0.065, ebenfalls eine neue Bestleistung für uns. Rundum zufrieden
mit diesem erfolgreichen Wochenende rollten wir über die Grenze nach Hause.
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