Es ist fünf Minuten vor um eins in der Nacht, aber wir sind beide auch ohne Wecker putzmunter.
Ursprünglich war der Aufbruch zum Gipfel für 0:00 festgelegt worden, aber auf Grund der vielen
Wolken mußten wir eine kleine Verschiebung einplanen. Nach einem Blick nach draußen entschieden
wir uns ersteinmal fürs Frühstück, denn nochmal würden wir bestimmt nicht in der Nacht aufstehen.
Es war der 29. Juli, mein Geburtstag und so paßten die vom Hüttenwirt bereitgestellten Kerzen recht
gut. Es war sehr gemütlich mit einem ausführlichen Frühstück. Als wir um 2:00 aufbrachen, hatten
sich die Wolken etwas gelichtet, und wir konnten vom Vollmond profitieren. Der Mondschein war um
so wichtiger, als daß meine Stirnlampe, wie üblich bei solchen Touren, nach einiger Zeit im
Wesentlichen den Geist aufgab. Mein Onkel führte die Seilschaft an, während ich den Rucksack
mit dem Restseil und unserer Tagesausrüstung trug. Wir hatten diese Reihenfolge aus
Geschwindigkeitsgründen gewählt. Die zu überwindenden Spalten waren klein und erforderten
keine besonderen Sicherungstechniken. Deshalb ging es anfangs recht zügig entlang der zwar
verschneiten, aber immer noch gut erkenntlichen Spur unserer Vorgänger voran. Nach einer Weile
erreichten wir ein kleines Plateau, von dem man einen anheimelnden Blick auf den mondbeschienenen
Mt. Blanc hatte. Mit zunehmender Höhe wurde es immer schwieriger, die Spur zu finden, und so
mußten wir ungefähr dem von der Karte eingeprägten Weg folgen. Es begann zu dämmern. Plötzlich
tauchte nicht weit vor uns eine sehr große Spalte auf. Ohne Leitern würde diese nicht überwindbar
sein. Nach einiger Beratung entschieden wir uns, die schmalste Stelle zu suchen, denn dort würden
alle Spuren zusammenlaufen. Wir malten uns Chancen aus, den ursprünglichen Weg wiederzufinden.
Der Kletterer würde sagen, daß es sich auflöste, denn die schmalste Stelle war eine große Brücke
nach der ein Netz aus Spuren begann. Auf dem dahinter liegenden Plateau (Grand Plateau) befand sich
ein riesiger, künstlich angelegter Eishügel, der wie sich später herausstellte, einem Philosophen
als Unterkunft diente. Das Plateau auf 4000m Höhe war recht schnell durchquert und wir sahen den
200m höhergelegenen Grat schon zum Greifen nahe. Für diese 200m brauchten wir bestimmt zwei Stunden,
denn der Weg führte in einer flachen Rinne mit überfrorenem Sulzschnee entlang. Das Ergebnis war das,
als man seinen Körper mühsam den nächsten Schritt hochgehievt hatte, augenblicklich wieder einbrach.
Hinzu kam, daß die Spur des Vorgängers aus eben diesem Grunde fast nicht benutzbar war. Die Pausen
wurden beängstigend lang. Eine nutzen wir zu einem kleinen Rundblick und fotografierten. Der Augille
de Midi lag schon deutlich unter uns, fast unmittelbar über einer geschlossenen Wolkendecke. Das gab
mir einige Motivation, da die Sonntagstouristen also bis in unsere Höhe nicht mit der Seilbahn fahren
konnten. Auf dem Gipfelgrat sahen wir diverse Seilschaften wie kleine schwarze Raupen entlangmaschieren.
Diese waren alle von der Goúter-Route gekommen und hatten auf Grund der geringeren Anzahl von Höhenmetern
natürlich einen kleinen Vorsprung. Wegen der schlechten Wettervorhersage waren aber nur relativ wenige
Bergsteiger unterwegs. Völlig erschöpft erreichten wir den Absatz zwischen Dome de Goúter und der
Schutzhütte Vallot. Nach einer kleinen Rast ging es merklich leichter auf dem Grat in einer ausgetretenen
Trasse voran. Nach dem Passieren der Vallot-Hütte führte ein sehr steiler Anstieg bergan. Das Seil
mutierte zu einem Motivationsstrick. Der Erste wollte es nicht schlaff werden lassen und der Zweite
entsprechend nicht straff. Ungerecht war nur, daß sich der Vorgänger nach dem Steilstück schon in
flachererem Gelände befand. Kurz vor Überquerung des Bossegrades machten wir eine kleine Photopause
und zählten die noch bevorstehenden Steilstücke. Der Bossegrat selbst war nicht so schmal wie gedacht,
aber das lag vermutlich auch am dünnen Gegenverkehr. Endlich war die letzte Steilstufe erreicht
und wir hofften bald auf den Gipfel. Nun wußten wir, daß wir es bis hoch schaffen würden, denn im Sulzschnee
hatte uns der Mut schon ein wenig verlassen. Doch eine böse Überraschung wartete auf uns, denn nach dem
Steilstück war man noch nicht oben. Die pure Sturheit trieb uns den flacher ansteigenden Grat weiter
entlang. Auf einmal stieg der Grat nicht weiter an. Wir waren auf dem Gipfel. Etwas unspecktakulär,
aber dennoch der höchste Punkt. Die Wolken hatten sich leider nicht aufgelöst und versperrten bis
auf wenige kurze Augenblicke die Sicht ins Tal nach Chamonix. Der oben erwähnte Philosoph war der
Einzige mit uns auf dem Gipfel und nervte mit seinen Sponsorenfotos. Das hatte natürlich den Vorteil von
vernünftigen Gipfelfotos ohne Selbstauslöser und Rucksackstativ. Trotzdem hatte ich durch das mehrfache
Handschuhe aus und an bald kalte Finger und wir machten uns an den Abstieg. Wer schon einmal
Hochgebirgstouren gemacht hat, wird wissen, daß beim Abstieg etwas die Motivation fehlt und dieser
deshalb sehr zäh ist. So ging es auch uns. Die Spur in der Sulzschneerinne war inzwischen etwas breiter
getreten worden. Viele Seilschaften hatten nach den katastrophalen Verhältnissen auf der Goúter- Route
diesen Weg vorgezogen, zumal wir ihnen die gute Begehbarkeit bestätigt hatten. Deshalb wurde der Weg aber
nicht weniger anstrengend. Zur Erleichterung zogen wir die Steigeisen aus und kamen recht gut voran.
Auf halbem Wege zum Grand Plateau kamen uns die vier Ungarn entgegen, die erst sehr spät losgelaufen waren
und an der Valott-Schutzhütte zelten wollten. Wir waren schon ziemlich am Ende und mußten auch entsprechend
ausgesehen haben. Unsere Getränkereserven waren aufgebraucht. Als hätten die Ungarn es geahnt, hielten sie
uns einen Becher mit einem lauwarmen Getränk aus geschmolzenem Schnee entgegen. Es war nicht nur die
Flüssigkeit, sondern auch die kameradschaftliche Geste der Bergsteiger, die mir einen ungeheuren
Motivationsschub gab. Meinem Onkel muß es ähnlich gegangen sein. Unterwegs sahen wir unsere Spur und
stellten fest, daß wir alles richtig gemacht hatten. Das letzte Stück über den Gletscher zur Hütte rannten
wir, denn es zog eine große schwarze Regenwolke heran, die auch durchaus ein Gewitter hätte werden können.
Trotz der Anstrengung hielt sich unser Hunger in Grenzen, und auch mit einem kleinen Schläfchen wurde es nichts.
Deshalb nutzten wir die Gelegenheit und telefonierten zum einen mit Angela und zum anderen mit den Sandmäusen,
die bei Kathrin und Tim im Garten grillten und eine Flasche Wein auf meinen Geburtstag tranken. Kurz vor
der Dämmerung kam ein Bergungshubschrauber und brachte eine tödlich verunglückte Bergsteigerin. Dies führte mir
auf sehr drastische Art vor Augen, daß die Besteigung erst im Tal beendet war. Für den Rest des Abends hatte
ich neben der Freude über den geschafften Gipfel ein recht mulmiges Gefühl im Magen. Am Freitag war das Wetter
wie vorhergesagt fantastisch. Wir nutzen die Zeit für ausgiebiges Photogtaphieren. Der Hüttenwirt hatte uns
gefragt, ob wir einen Spanier dessen Bergfreund leicht verletzt ins Krankenhaus geflogen worden war, mitnehmen
könnten. Nach einigem Zögern stimmten wir zu. Das Problem war, daß wir mit uns selber beschäftigt waren und so
nur einen versierten Bergsteiger mitnehmen konnten. Im Gletscherabbruch sahen wir die fantastischen Eistürme.
An einer Spalte passierte das, was immer passieren kann. Die Schneebrücke war sehr dünn geworden und in ihrer
Mitte fehlte ein Stück. Eine Prüfung mit dem Pickel bestätigte trügerische Festigkeit. Schon beim leichten
Auftreten brach sie weg. Aber es war zu spät und so konnte ich mich nur noch durch schnelles nach vorn werfen
vor einem Absturz bewahren. Da lag ich nun über einem ca. 20m tiefen und reichlich einen Meter breitem Abgrund.
Mein rechter Arm lag eingeklemmt unter meinem Körper. In der linken Hand hielt ich mich am sicher eingehauenem
Pickel fest, und während mein linker Fuß an der gegenüberliegenden Spaltenwand stützte hing der rechte in der
Luft. Glücklicherweise bekam ich keinen Krampf. Der Spanier entwickelte hektische Betriebsamkeit und wollte mich
mit einem Flaschenzug zurückziehen. Dies konnte ich gerade noch verhindern, denn das hätte mich kopfüber in die
Spalte gezogen. So seilte er ersteinmal zu mir ab und machte sich ein Bild von der Situation. Schließlich
einigten wir uns darauf, daß er über die Spalte springen und eine Sicherung von vorn aufbauen würde. Mit einem
lauten "Io salto" sprang er und installierte die Sicherung. Nun konnte ich mich selber aus der Spalte befreien.
Dies war eine sehr wirklichkeitsnahe Lektion in Punkto Spaltenbergung. Der Rest des Abstieges verlief ohne
Zwischenfall. Zugunsten eines verspäteten Geburtstagsessens fuhren wir wieder mit der Seilbahn ins Tal.
Am Sonntag fuhr ich natürlich wieder in die Sächsische Schweiz und genoß die Ruhe beim Klettern im Zschand.
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